Wo warst Du an 9/11?

Es heisst, jeder Mensch könne auf Anhieb sagen, wo er war, als ihn die Nachricht vom Terrorattentat auf das World Trade Center in New York City erreichte.

Für mich jedenfalls trifft das zu und den Ort kann ich fast metergenau festlegen. Heute vor 20 Jahren war ich zu dem Zeitpunkt in der Lobby des Hotel Burnham, 1 West Washington, Chicago, Illinois. Ein sehr komfortables Hotel „in the very heart of windy City“. Chicago.

Aber von Anfang an und das heißt erst einmal: New Orleans.

Mein Kollege Ralf Jaedicke und ich waren zu dem Zeitpunkt Teilnehmer einer Reisegruppe der Radioberatungsfirma BCI, alles aktive Radiomacher von öffentlich-rechtlichen und Privatradios.

In New Orleans standen für uns auf dem Programm die Radiomesse  und der Kongress der NAB. Danach ging es weiter nach Chicago um dort, in einem der größten Radiomärkte der USA einige Radiostationen zu besuchen und dort mit den Programmmachern und -managern zu sprechen. Und ein bisschen Zeit für Besichtigungen blieb auch noch. 

BCI hatte eine ganze Reihe Radiostationen ausgesucht, sehr unterschiedlich in ihrer Art und ihrem Zielpublikum. Überall wurden wir herzlich empfangen, oft auch sofort ins Studio gestellt um Auskunft zu geben, was wir hier wollten. 

Das alles kam am 11. September zu einem abrupten Ende.

Um kurz vor acht Uhr in der Früh (Chicago ist eine Zeitzone hinter der US-Ostküste) sagte einer, als wir uns in der Lobby des Hotels für die Besichtigungen des Tages fertig machten, da sei ein Flugzeug in das WTC geflogen. Ich dachte, da hätte der Pilot eines kleinen Sportflugzeugs einen schrecklichen Fehler gemacht, aber kurz darauf starrten wir völlig ungläubig auf die Fernsehbildschirme im Hotel. Ganz praktisch erhob sich die Frage, können wir in unserem Programm weitermachen? Wir beschlossen, zu unserem ersten Termin zu fahren und dort die Lage zu erkunden.

„97.9 The Loop – Where Chicago Rocks“ hieß die Station und die Büros und Studios waren hoch auf einem der 100 Stockwerke des John-Hancock-Center, dem charakteristischen Hochhaus in Chicago mit der Doppelantenne auf dem Dach. Erst am Tag zuvor hatten wir es von der Aussichtsplattform des Sears-Tower, damals noch das höchste Gebäude in Chicago, gesehen.

Wir fanden völlig aufgelöste amerikanische Kollegen vor, die wie gebannt auf die Bildschirme starrten, mittlerweile war auch das zweite Flugzeug in den zweiten Tower des WTC geflogen. Kein Gedanke an eine deutsche Besuchergruppe war verständlicherweise möglich. Und während wir noch unschlüssig in einer Ecke rumstanden, kam über die Lautsprecheranlage des Hancock-Centers die Aufforderung an alle, die sich im Haus befanden, dieses in Ruhe, aber SOFORT, zu verlassen. Ich weiß nicht, wieviele Menschen zu dem Zeitpunkt sich dort aufhielten. Aber kurz nach der Durchsage verließen Ströme von Menschen das Gebäude, darunter auch eine verwirrte Besuchergruppe aus Deutschland. Es gab zu dem Zeitpunkt noch wilde Gerüchte über weitere Flugzeugentführungen und folgerichtig wurden auch in Chicago alle Hochhäuser geräumt. ALLE. In kürzester Zeit war das Zentrum dieser gigantischen Stadt fast menschenleer. Vereinzelte Kampfflugzeuge kreisten über Chicago, es war eine unwirkliche Situation.

Meiner Erinnerung nach sind wir erst einmal in unser Hotel zurückgefahren. Dort erreichten Ralf Jaedicke und mich die ersten Anrufe unseres SWR und wir haben in mehreren Programmen über die Situation aus unserer Sicht berichtet. Einzige Quelle waren Fernseh- und Radiosender. Es war das Jahr 2001. Wir hatten zwar Handys, aber natürlich noch kein mobiles Internet. 

Für die Reisegruppe gab es jetzt ein Problem. Am selben Nachmittag oder Abend hätte eigentlich der Rückflug nach Deutschland stattfinden sollen. Aber es ging kein Flug mehr, es gab keinen zivilen Flugverkehr über den USA, wir waren gestrandet. Das Hotel konnte unseren Aufenthalt verlängern, es kamen ja keine neuen Gäste mehr. Es sollte noch mehrere Tage dauern, bis der Flugverkehr wieder in Gang kam. Die Berater von BCI haben in der Zeit organisatorische Höchstleistungen vollbracht um mit der Gruppe auf einen möglichst frühen Flug gebucht zu werden.

Mein privater Plan war es, noch ein paar freie Tage dran zu hängen. Es war ein Wunder, dass mein gebuchter Mietwagen für diesen Trip am Flughafen von Chicago noch für mich reserviert war. Da keine Flüge mehr gingen, hatten die Amerikaner alles weggebucht was vier Räder hatte, um nach Hause zu fahren, auch wenn es über den ganzen Kontinent ging.

Jedenfalls habe ich dann noch ein paar Tage in der Abgeschiedenheit an der Spitze von Wisconsin am Lake Michigan verbracht. In einem traumatisierten Land kann ich es nicht Urlaub nennen, aber zumindest eine Erfahrung, die ich hoffentlich nur einmal im Leben machen muss. Ich habe heute noch auf MiniDisc stundenlange Mitschnitte von Radioprogrammen, eine Erinnerung der besonderen Art.

Mein Rückflug fand dann am 16. September statt, der bestkontrollierte Flug, den ich je erlebt habe.